„Wir müssen reden – über Sex-Content auf Kinderhandys“
Es ist ein Satz, den man nicht gerne schreibt: Unsere Kinder lernen heute zuerst durch Pornografie, was Sexualität bedeutet. Nicht durch Gespräche mit uns. Nicht durch erste vorsichtige Annäherungen mit Gleichaltrigen. Sondern durch endloses Scrollen auf TikTok, durch Filter und Algorithmen, durch Pornhub und ähnliche Plattformen, die explizite Inhalte gamifizieren – mit Autoplay, mit Suchtmechanismen, mit immer drastischeren Bildern.
Was einst Erwachsenen vorbehalten war – oft im Verborgenen und mit zumindest ein paar Barrieren – ist heute jederzeit verfügbar. Kostenlos. Unbegrenzt. Und aggressiv auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet.
Bild erstellt mit künstlicher Intelligenz (ChatGPT / DALL·E von OpenAI)
Der Text „The Mass Trauma of Porn“ von Freya India trifft einen wunden Punkt. So schmerzhaft und schwer zu lesen er ist – er beschreibt eine Realität, die wir als Eltern nicht länger verdrängen dürfen. Freya India ist eine britische Autorin und Journalistin, die sich mit den Auswirkungen digitaler Kultur auf junge Menschen beschäftigt – schonungslos, sensibel und aus der Perspektive ihrer eigenen Generation.
Denn wenn unsere Kinder heute durch Algorithmen lernen, dass Intimität bedeutet, benutzt oder bewertet zu werden, dann ist es unsere Verantwortung, das Gespräch zu suchen. Auch – und gerade – wenn es schwerfällt.
1. Was heute auf den Smartphones unserer Kinder passiert
„Mama, was heißt OnlyFans?“ Diese Frage kam von einer Zehnjährigen. Sie hatte das Wort auf TikTok gehört. Im ersten Moment lachen Eltern oft über solche Situationen. Doch was dahintersteckt, ist nicht lustig: Kinder und Jugendliche bekommen heute schon in der Grundschule Inhalte zu sehen, die vor wenigen Jahren noch als jugendgefährdend eingestuft worden wären.
TikTok, Instagram, Snapchat – sie alle funktionieren nach demselben Prinzip: Nutzerverhalten wird analysiert, um passende Inhalte auszuspielen. Und passende Inhalte, das sind jene, die die höchste Wahrscheinlichkeit auf Verweildauer und Interaktion erzeugen. In der Praxis bedeutet das: Sex sells. Immer. Auch bei Zwölfjährigen.
Tanztrends, Lip Syncs, Challenges: Was spielerisch beginnt, wird oft sexualisiert dargestellt. Kinder eifern Influencerinnen nach, die durch Reize, Posen und bestimmte Outfits Aufmerksamkeit generieren. Die Plattformen begünstigen das. Sie fördern Accounts, die oft schon auf den ersten Blick durch körperliche Reize hervorstechen – selbst wenn die Creator:innen minderjährig sind.
Dabei sind viele Kinder noch gar nicht in der Lage, diese Inhalte zu verstehen, geschweige denn zu verarbeiten. Sie stolpern hinein. Und was sie dort sehen, prägt sie tief. Oft, ohne dass sie es selbst merken.
2. Die Mechanismen dahinter
TikTok, Instagram und auch Pornoplattformen wie Pornhub setzen auf dieselben Prinzipien, die in der Suchtforschung längst bekannt sind: Dopaminschübe durch Belohnung, Neugier, Eskalation. Es beginnt mit harmlosen Inhalten, doch jeder Klick, jedes Scrollen optimiert den Algorithmus. Und der Algorithmus ist gierig: Er will mehr – und gibt mehr. Mehr Reiz, mehr Gewalt, mehr Extrem.
Diese Mechanismen sind nicht zufällig, sie sind gewollt. Pornoplattformen arbeiten mit sogenannten „Endless Scrolls“, variablen Belohnungen, Clickbait-Titeln und Kategorien, die immer weiter ins Extreme führen. Das ist die Gamifizierung von Pornografie. Kinder und Jugendliche lernen: Wer lange scrollt, findet „spannendere“ Inhalte. Wer sich einloggt, bekommt Empfehlungen. Wer abonniert, wird „belohnt“.
Was das bedeutet? Dass unsere Kinder immer früher mit immer härterem Content in Berührung kommen. Teilweise mit Inhalten, die Gewalt zeigen, Demütigung, Erniedrigung – verpackt als „normaler“ Sex.
3. Was das mit unseren Kindern macht
Die psychischen und sozialen Folgen sind tiefgreifend. Studien wie die JIM-Studie (Jugend, Information, Medien) oder der Monitor Jugendsexualität der BZgA zeigen, dass Kinder, die früh und regelmäßig pornografischen Content sehen, ein verzerrtes Bild von Sexualität, Körpern und Beziehungen entwickeln. Mädchen berichten von einem extremen Druck, sexy sein zu müssen – möglichst früh, möglichst immer. Jungen erleben eine verschobene Erwartung an Lust, Dominanz und Kontrolle.
Viele Jugendliche glauben, dass das, was sie in Pornos sehen, die Norm ist. Dass Sex immer laut, hart und grenzenlos ist. Dass Liebe damit nichts zu tun hat. Dass man Erwartungen erfüllen muss, statt sich kennenzulernen. Scham, Überforderung, Misstrauen – all das prägt Beziehungen bereits im Teenageralter.
Hinzu kommt: Die Schwelle zur Selbstinszenierung sinkt. Nacktbilder, Sexting, „sexy“ Content werden fast zur Währung unter Jugendlichen. Wer nicht mitmacht, wird ausgegrenzt. Wer zu viel zeigt, wird beschämt. Eine toxische Spirale, in der echte Intimität kaum noch Platz hat.
Und noch etwas ist offensichtlich: Es gibt im Internet keine Gleichberechtigung. Die Rollenbilder sind klar verteilt – und sie sind nicht nur überholt, sondern brutal überspitzt. Weiblichkeit wird auf Objektstatus reduziert. Männlichkeit wird als Kontrolle, Härte und Anspruch inszeniert. Sexismus ist im Internet kein Nebenschauplatz – er ist Alltag. Und wir alle wollen nicht, dass unsere Kinder sich so verhalten, wie es ihnen dort vorgelebt wird.
Bild erstellt mit künstlicher Intelligenz (ChatGPT / DALL·E von OpenAI)
4. Unsere Rolle als Eltern
Viele Eltern hoffen, dass ihre Kinder „schon nicht auf solche Seiten gehen“. Dass der WLAN-Filter reicht. Dass der Medienvertrag in der Schule ausreicht. Aber: Diese Hoffnung ist trügerisch.
Kinder sehen die Inhalte nicht, weil sie explizit danach suchen – sondern weil sie automatisch in ihren Feeds landen. Weil Algorithmen genau darauf programmiert sind. Es reicht also nicht, technische Hürden zu bauen. Wir müssen ins Gespräch gehen.
Das bedeutet: offen sprechen. Frühzeitig. Altersgerecht. Und ohne Scham. Kinder brauchen unsere Orientierung – nicht nur in Fragen von Sicherheit, sondern auch in Fragen von Würde, Respekt und Nähe. Sie brauchen Begriffe, um einordnen zu können, was sie sehen. Und sie brauchen einen sicheren Raum, um Fragen zu stellen, Ängste zu äußern und sich ernst genommen zu fühlen.
Das ist unbequem. Und es braucht Mut. Aber es ist notwendig.
5. Was wir konkret tun können
Die gute Nachricht: Wir sind nicht hilflos. Es gibt konkrete Maßnahmen, die helfen können:
Technische Schutzmaßnahmen: Kindersicherungen, Jugendschutz-Apps, altersgerechte Suchmaschinen wie fragFINN oder Blinde Kuh.
Regeln und Medienverträge: Klare Vereinbarungen über Bildschirmzeiten, Inhalte, Verhalten im Netz. Am besten gemeinsam aufgestellt.
Medienbildung in Schule und Elternhaus: Projekte wie Schau Hin!, klicksafe oder Internet-ABC bieten gute Materialien.
Begleitung statt Kontrolle: Fragen stellen, Interesse zeigen, mitgehen. Wer sich einloggt, weiß, wovon das Kind spricht.
Netzwerke und Austausch: Elterngruppen, Beratungsstellen, Lehrer:innen – gemeinsam geht mehr.
Und: Wir müssen auch politisch lauter werden. Plattformen müssen in die Pflicht genommen werden. Altersverifikation, härtere Moderation, Schutzmechanismen – das sind keine „Extras“, sondern Voraussetzungen für ein kindgerechtes Internet.
6. Ein Appell
Was wir bei einem einzelnen Kind als Missbrauch bezeichnen würden, ignorieren wir kollektiv, wenn es um digitale Inhalte geht. Wir tun so, als sei das eben so. Als habe es schon immer dazugehört. Aber das stimmt nicht. Es ist neu. Und es ist gefährlich.
Unsere Kinder verdienen ein Aufwachsen mit echten Erfahrungen, mit Respekt, mit liebevoller Nähe. Sie verdienen es, ihre Sexualität selbstbestimmt und geschützt zu entdecken – und nicht durch die Linse eines algorithmischen Sexmarkts.
Deshalb dürfen wir nicht länger schweigen. Wir müssen hinsehen. Wir müssen miteinander reden – mit unseren Kindern, mit anderen Eltern, mit Lehrer:innen, mit Politiker:innen.
Denn unsere Kinder brauchen uns. Nicht als Kontrolleure. Sondern als Schutz, als Gesprächspartner:innen, als Vorbilder.
Es ist nicht zu spät. Aber es ist höchste Zeit.