Digitale Gewalt: Wenn Kontrolle zur Liebe erklärt wird
Digitale Gewalt in den ersten Beziehungen unserer Kinder
Mehr als die Hälfte aller Jugendlichen erlebt in ihrer ersten Beziehung Gewalt. Das zeigen aktuelle Studien aus Deutschland und der Schweiz (unten verlinkt). Die häufigste Form ist dabei nicht körperlich, sondern digital: sogenanntes Monitoring, also das ständige Überwachen, Mitlesen oder Einschränken der Kontakte des Partners oder der Partnerin.
Was dabei oft harmlos klingt („Ich will nur wissen, mit wem du schreibst“) wird schnell zu Kontrolle. Viele Jugendliche halten das für normal oder sogar für ein Zeichen von Liebe. Doch genau hier beginnt digitale Gewalt.
Bild generiert mit Hilfe von KI (Gemini, Google)
Was Monitoring bedeutet
Unter Monitoring versteht man das ständige Kontrollieren des anderen über digitale Wege. Das kann bedeuten:
Chats oder Nachrichten mitzulesen
Passwörter oder Standortdaten zu verlangen
das Handy regelmäßig zu überprüfen
Freundschaften zu hinterfragen oder Kontakte zu verbieten
Oft passiert das aus Unsicherheit oder Angst, verlassen zu werden. Doch daraus kann eine Dynamik entstehen, in der Kontrolle, Eifersucht und Druck den Alltag bestimmen.
Was die Forschung zeigt
Studien der Hochschule Fulda und des Eidgenössischen Büros für Gleichstellung (Quellen unten angegeben) kommen zu alarmierenden Ergebnissen:
Über 50 Prozent der Jugendlichen erleben Gewalt in ihrer ersten Beziehung
Die häufigste Form ist psychische oder digitale Gewalt
Mädchen sind häufiger betroffen, aber auch Jungen erleben Überwachung
Viele erkennen das Verhalten zunächst nicht als problematisch
Das zeigt, wie wenig Wissen es über diese Form von Gewalt gibt. Besonders in einer Lebensphase, in der Beziehungserfahrungen neu und intensiv sind, fällt es Jugendlichen schwer, Grenzen zu setzen oder zu erkennen, wenn sie überschritten werden.
Wenn Nähe zur Kontrolle wird
Jugendliche erzählen in Interviews, dass sie sich oft geschmeichelt fühlen, wenn ihr Partner oder ihre Partnerin ständig schreibt oder wissen will, wo sie sind. Erst später merken viele, dass sie kaum noch Freiraum haben.
Ein Satz wie „Ich will nur dich“ kann romantisch klingen und auch so gemeint sein, aber er kann leider auch manchmal bedeuten: „Ich will bestimmen, mit wem du redest, wohin du gehst, was du postest.“ Solche Verhaltensmuster können langfristig das Selbstwertgefühl untergraben und den Weg zu weiteren Formen von Gewalt ebnen, psychisch, sozial oder körperlich.
Kontrolle im Namen der Fürsorge
Digitale Kontrolle passiert oft mitten in der Beziehung. Viele Jugendliche erleben, dass ihr Partner oder ihre Partnerin ständig wissen will, wo sie sind, mit wem sie schreiben oder wann sie zuletzt online waren. Häufig wird das mit Sicherheit oder Fürsorge begründet: „Ich will nur wissen, dass du gut angekommen bist“ oder „Ich mache mir Sorgen, wenn du nicht antwortest“.
Solche Sätze können ehrlich gemeint sein. Es ist völlig normal, sich um jemanden zu sorgen, den man liebt. In einer gesunden Beziehung darf man nachfragen, darf sich erkundigen, darf Anteil nehmen. Entscheidend ist, wie es passiert und ob es beidseitig geschieht.
Wenn Nachfragen zu Forderungen werden, wenn jemand ständig Rechenschaft erwartet oder mit Misstrauen reagiert, beginnt die Grenze zu verschwimmen. Kontrolle entsteht dann dort, wo Fürsorge nicht mehr freiwillig ist, sondern Druck macht.
Wer das Gefühl hat, sich ständig rechtfertigen zu müssen oder keine Ruhe mehr zu finden, erlebt keine Zuneigung, sondern Überwachung. Liebe bedeutet Vertrauen und Vertrauen heißt, den anderen loszulassen, auch wenn man sich sorgt.
Viele Jugendliche merken erst spät, dass sie kaum noch Momente für sich haben. Sie fühlen sich verpflichtet, jederzeit erreichbar zu sein. Wer nicht sofort antwortet, muss sich erklären. Kontrolle wird so zur Normalität, als Ausdruck von Nähe und genau das macht sie so gefährlich.
Ab wann ist Fürsorge Kontrolle: Wenn Anteilnahme zur Verpflichtung wird. Wenn Nähe nicht mehr freiwillig ist. Und wenn einer ständig mehr wissen will, als der andere bereit ist zu teilen.
Überwachung durch Apps
Was früher durch Gespräche oder Eifersucht geschah, passiert heute technisch. Es gibt zahlreiche Apps, die es ermöglichen, den Partner heimlich zu überwachen. Sie zeichnen Bewegungen auf, zeigen den Standort in Echtzeit oder melden, wenn jemand online geht. Manche dieser Anwendungen sind eigentlich für Kindersicherung oder Geräteschutz gedacht, werden aber in Beziehungen zweckentfremdet. Oft auch ohne Wissen des Partners.
Die Grenze ist dabei oft fließend. Jugendliche teilen freiwillig ihre Standorte, Passwörter oder Social Media Konten aus Vertrauen oder Liebe. Doch sobald diese Informationen genutzt werden, um Verhalten zu kontrollieren, beginnt Missbrauch.
Das Problem: Viele dieser Apps wirken harmlos. Sie heißen Family Tracker oder Find My Phone und sehen aus wie alltägliche Tools. Doch sie schaffen ein Machtgefälle, in dem einer immer mehr weiß als der andere. Wer sich ständig beobachtet fühlt, verliert nach und nach das Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung.
Darum ist es wichtig, dass Jugendliche lernen, solche Dynamiken zu erkennen. Kontrolle kann sich verstecken in Funktionen, die eigentlich schützen sollen. Aufklärung bedeutet deshalb auch, über Technik zu sprechen, über Datenschutz, Privatsphäre und das Recht, unsichtbar zu sein.
Kontrolle beginnt meist schon Zuhause
Viele Jugendliche erleben Kontrolle schon lange, bevor sie ihre erste Beziehung haben. Eltern wollen ihre Kinder beschützen und nutzen dazu häufig digitale Mittel: Standortfreigaben, Überwachungs Apps, Online Filter oder das Mitlesen von Chatverläufen.
Hinter diesen Maßnahmen steckt meist keine böse Absicht, sondern Sorge. Doch sie prägen, wie Kinder Kontrolle wahrnehmen. Wer von klein auf lernt, dass Überwachung ein Zeichen von Fürsorge ist, erkennt sie später in Beziehungen oft nicht als Problem.
Natürlich brauchen Kinder Schutz, vor Gefahren, Fremden und riskanten Situationen im Netz. Aber Schutz ist etwas anderes als Kontrolle. Wenn Jugendliche das Gefühl haben, nie unbeobachtet zu sein, verlieren sie Vertrauen in ihre eigene Verantwortung.
Eltern können viel bewirken, wenn sie Sicherheit erklären, anstatt sie durch Überwachung zu erzwingen. Gespräche über Vertrauen, Privatsphäre und Selbstständigkeit helfen Kindern, Grenzen zu verstehen und sie später auch selbst zu setzen.
Auf diese Weise lernen Jugendliche, dass echte Fürsorge Freiheit lässt und Kontrolle nie Liebe bedeutet.
Wenn Kontrolle nicht endet
Manche Formen digitaler Gewalt hören nicht auf, wenn die Beziehung endet. Ex-Partner verfolgen dann, mit wem jemand schreibt, kommentieren neue Posts oder nutzen gespeicherte Passwörter, um Zugriff zu behalten. In Einzelfällen werden sogar Spionage Apps installiert, die heimlich Daten sammeln oder den Standort übermitteln.
Solche Handlungen sind kein Zeichen von Liebe oder Schmerz, sondern von Macht und Besitzdenken. Viele Betroffene schämen sich oder glauben, sie hätten selbst etwas falsch gemacht. Doch digitale Kontrolle ist ein Übergriff und sie kann strafbar sein.
Deshalb ist es wichtig, dass Jugendliche wissen, wo sie Hilfe finden. Bei Verdacht auf Überwachung sollte man Passwörter ändern, Geräte prüfen und sich an Vertrauenspersonen oder Beratungsstellen wenden. Niemand muss Kontrolle aushalten, nur weil sie digital stattfindet.
Was Eltern tun können
Eltern können viel bewirken, wenn sie früh über Beziehung, Vertrauen und Grenzen sprechen. Hilfreich sind Fragen wie:
Was bedeutet Vertrauen in einer Beziehung?
Ist es in Ordnung, das Handy des Partners zu kontrollieren?
Wie erkenne ich, wenn jemand meine Freiheit einschränkt?
Wichtig ist, nicht nur über körperliche Gewalt zu sprechen. Digitale Kontrolle ist subtiler, aber oft der Anfang von etwas Größerem.
Warum Aufklärung so wichtig ist
Viele Jugendliche erleben ihre erste Beziehung heute unter völlig anderen Bedingungen als frühere Generationen. Smartphones, Chats und soziale Netzwerke sind allgegenwärtig. Nähe entsteht digital, Konflikte auch. Doch das Bewusstsein für Macht und Grenzen wächst oft erst, wenn etwas schiefgeht.
Eltern, Lehrkräfte und Pädagoginnen sollten deshalb früh über Beziehung, Vertrauen und Selbstbestimmung sprechen. Und nicht erst, wenn Kontrolle oder Eifersucht sichtbar werden. Jugendliche brauchen ein klares Verständnis davon, was gesunde Beziehung bedeutet. Dazu gehört:
dass man das Recht auf Privatsphäre behält, auch in einer Partnerschaft
dass Vertrauen nicht bedeutet, alles zu teilen
dass man über Gefühle sprechen kann, ohne andere zu verletzen
dass Liebe frei macht, nicht einschränkt
In Schulen kann Aufklärung über digitale Gewalt Teil der Medienbildung werden. Wenn Jugendliche verstehen, wie leicht Kontrolle durch Standortfreigaben, Passwörter oder ständige Erreichbarkeit entsteht, entwickeln sie ein Gefühl für Grenzen.
Auch Eltern können viel beitragen, indem sie in Gesprächen nicht nur warnen, sondern zuhören. Statt zu fragen „Warum lässt du dir das gefallen“, kann es helfen zu fragen „Wie fühlst du dich dabei“. Wer sich ernst genommen fühlt, öffnet sich eher und erkennt selbst, dass etwas nicht stimmt.
Digitale Gewalt beginnt selten mit Absicht, aber sie entsteht in einer Kultur, die Kontrolle oft mit Zuneigung verwechselt. Darum braucht es Aufklärung, Empathie und klare Werte. Wer früh lernt, dass Liebe nichts mit Besitz zu tun hat, schützt nicht nur sich selbst, sondern auch die Menschen, die ihm wichtig sind.
Quellen
Teen Dating Violence: Wie gewalttätig sind junge Beziehungen – ZEIT Zett
Hochschule Fulda: Gewalt in jugendlichen Paarbeziehungen (PDF)
Eidgenössisches Büro für Gleichstellung: Gewalt in jugendlichen Paarbeziehungen (PDF)