Wie wir Kinder unterstützen, digitale Strukturen zu durchschauen
Gastbeitrag von Maja Sommer
Foto: Hendrik Krug
Kinder und Jugendliche wachsen in einer Welt auf, die komplexer ist, als viele Erwachsene es sich vorstellen. Sie sind täglich online, treffen dort Entscheidungen, sehen Inhalte, folgen Empfehlungen und geraten in Situationen, die sie oft nicht einordnen können. Was ihnen fehlt, ist nicht nur Medienwissen, sondern ein Raum, in dem sie über all das sprechen dürfen. Wenn ich mit Jugendlichen arbeite, merke ich schnell, wie selten sie Gelegenheit haben, über ihre digitale Welt in Ruhe nachzudenken. Sie spüren viel, sie erleben viel, sie beobachten viel, aber sie haben kaum Orte, an denen sie das sortieren können. Echte Gespräche sind für sie eine Entlastung. Plötzlich dürfen sie Gedanken aussprechen, die sie sonst für sich behalten. Kinder verstehen digitale Risiken erst, wenn sie die Chance haben, darüber zu sprechen. Nicht in ein paar schnellen Sätzen, sondern in Ruhe, auf Augenhöhe und ohne Bewertung.
Wenn Kinder merken, dass sie etwas verändern können
In vielen Gesprächen passiert irgendwann ein Moment, in dem etwas klickt. Ein dreizehnjähriger stand nach einem Training vor mir und sagte leise, dass er es verstanden habe und die Apps löschen wolle. Nicht, weil ich es ihm gesagt hätte, sondern weil er es selbst begriffen hat. Dieser Moment ist zentral. Kinder müssen nicht nur hören, dass etwas riskant ist. Sie müssen fühlen, warum. Sie müssen verstehen, wie digitale Systeme funktionieren und warum sie so schwer zu verlassen sind. Nur dann können sie Entscheidungen treffen, die wirklich aus ihnen selbst kommen. Kinder sind beeindruckend reflektiert, wenn man ihnen Raum gibt. Sie entwickeln eigene Gedanken, stellen kluge Fragen und erkennen Zusammenhänge, die sie vorher nie gesehen haben. Es ist nicht fehlende Intelligenz, die sie in problematische digitale Muster führt. Es ist fehlende Zeit, fehlende Orientierung und fehlende Begleitung.
Was Kinder nicht wissen, obwohl sie es jeden Tag erleben
Viele Jugendliche wissen oberflächlich etwas über Datenschutz oder Algorithmen. Doch sie verstehen die Mechanismen erst, wenn man sie gemeinsam auseinander nimmt. Wenn man erklärt, wie Apps versuchen, Aufmerksamkeit zu binden, warum Benachrichtigungen stressen, wie Belohnungen wirken, warum Autoplay schwer zu stoppen ist und wie parasoziale Beziehungen Kinder emotional greifen, beginnt etwas Wichtiges. Kinder sehen plötzlich, dass sie nicht schuld sind, wenn sie zu lange am Handy bleiben. Sie verstehen, dass ihr Verhalten nicht aus Schwäche entsteht, sondern aus Strukturen, die genau darauf ausgelegt sind, sie zu binden. Ein Mädchen erzählte mir einmal, dass es ihr schwerfällt, die Duolingo-App zu verlassen, weil das Maskottchen dann so traurig schaut. Was spielerisch wirkt, ist für Kinder eine echte emotionale Bindung. Auch das muss man ihnen erklären.
Bild generiert mit Hilfe von KI (Gemini, Google)
Warum Zuhören stärker ist als Warnen
Echte Gespräche verändern Kinder, weil sie zeigen, dass Erwachsene ihnen zutrauen, selbst zu denken. Kinder wollen nicht belehrt werden. Sie wollen verstehen und verstanden werden. Sie wollen wissen, warum sich etwas so anfühlt, wie es sich anfühlt. Wenn man ihnen zeigt, wie digitale Strukturen funktionieren, lernen sie eine wichtige Wahrheit. Sie sind nicht Opfer einer Welt, die sie nicht verstehen. Sie sind Akteure ihres Lebens. Sie können Entscheidungen treffen. Sie können Grenzen setzen. Sie können sich selbst schützen. Nicht allein, aber gemeinsam mit Menschen, die ihnen zuhören und sie ernst nehmen.
Warum Regeln Orientierung geben
Erkenntnis ist wichtig, aber sie ersetzt keine Orientierung. Kinder brauchen klare Regeln, weil sie ohne diese Struktur die digitale Welt nicht einordnen können. Regeln sind kein Misstrauen, sondern ein Halt. Sie geben Sicherheit in einer Umgebung, die oft grenzenlos erscheint. Kinder müssen wissen, wann sie online sein dürfen, welche Räume sicher sind, wo sie aufhören sollten, mit wem sie sprechen können und wann eine Situation zu viel wird. Solche Regeln nehmen Kindern nicht die Freiheit, sondern geben ihnen den Rahmen, in dem Freiheit möglich wird. Viele Kinder sagen im Gespräch, dass sie sich Regeln sogar wünschen. Sätze wie: “Ich muss meinen Eltern unbedingt sagen, dass sie meine Bildschirmzeit reduzieren sollen.” höre ich ganz oft nach dem Training. Sie wollen Orientierung. Sie wollen wissen, was gut für sie ist und was ihnen schadet. Regeln sind wie Leitplanken. Sie verhindern, dass Kinder in digitale Abgründe geraten, die sie noch nicht erkennen können. Sie schützen, bevor etwas passiert, und sie entlasten Kinder, weil sie spüren, dass Erwachsene Verantwortung übernehmen.
Selbstschutz entsteht durch Erkenntnis, nicht durch Druck
In vielen Klassen entscheiden Kinder nach einem Gespräch, Benachrichtigungen auszuschalten. Manche löschen Apps. Manche legen Zeiten fest, in denen sie nicht online sind. Nicht, weil ich es fordere, sondern weil sie verstanden haben, was diese Abläufe mit ihnen machen. Ein 17-jähriges Mädchen erzählte offen von ihrer Fear of missing out (FOMO), der Angst etwas zu verpassen. Für Sie ist es so schlimm, etwas im Freundes-Chat zu verpassen, irgendwo nicht mitkommentieren oder mitlachen zu können, dass sie nonstop erreichbar ist. Aber das macht ihr enormen Druck.
Eine Lehrerin schrieb mir einmal, dass ihre Klasse nach einem Training die Push Nachrichten abgeschaltet habe und alle überrascht waren, wie viel mehr Zeit sie plötzlich hatten. Diese Erkenntnisse tragen Kinder. Sie machen sie stark und unabhängig. Sie zeigen ihnen, dass sie handeln können. Selbstschutz entsteht nicht durch Verbote. Er entsteht durch Verstehen.
Warum Kinder Begleitung brauchen
Kinder brauchen Erwachsene, die bereit sind, die digitale Welt mit ihnen anzuschauen. Die ihnen erklären, was hinter den bunten Oberflächen steckt. Die ihnen helfen zu sortieren, was sie erleben. Sie brauchen Menschen, die mit ihnen reden, nicht über sie. Digitale Risiken sind nicht zu lösen, indem wir Kindern mehr Verantwortung zuschieben. Sie sind zu lösen, indem wir Verantwortung teilen. Kinder brauchen Begleitung, bis sie alt genug sind, Strukturen selbst zu durchschauen. Dafür brauchen sie Zeit, Ruhe, Gespräche und Vertrauen.
Unsere Aufgabe
Kinder wachsen in digitalen Räumen auf, die nicht für sie gebaut wurden. Sie können diese Welt nicht alleine verstehen. Sie brauchen Erwachsene, die sehen, was sie erleben, und die ihnen helfen, aus diesen Erfahrungen klug und gestärkt hervorzugehen. Echte Gespräche sind keine Kleinigkeit. Sie sind eine der stärksten Schutzfaktoren, die Kinder heute haben. Denn Kinder können viel mehr erkennen, als wir glauben, wenn wir ihnen zuhören, wenn wir ihnen Zeit geben, wenn wir mit ihnen sprechen und wenn wir sie unterstützen, auf ihre Klugheit zu vertrauen und diese weiter zu stärken.
Info zu Gastautorin Maja Sommer
Maja Sommer arbeitet mit Jugendlichen an weiterführenden Schulen und führt Workshops zu Social Media, Datenschutz und digitaler Selbstbestimmung durch. Weitere Informationen zu ihren Angeboten finden sich auf ihrer Website und in ihren Materialien.
Portrait auf Medienzeit: Maja Sommer macht Kinder stark im digitalen Raum
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