„Mir ist langweilig!“ – Was hinter dem Wunsch nach Unterhaltung steckt
Hi, ich bin Varvara, Diplom-Psychologin, Coach und Mutter.
Für Medienzeit beleuchte ich die psychologischen Zusammenhänge, damit Eltern mit einem klaren, warmen Blick durch die digitalen Herausforderungen des Alltags navigieren können.
Welches Grundbedürfnis wir Eltern in seiner Wichtigkeit nicht unterschätzen dürfen. Ein Gastbeitrag von Varvara Herbst, Diplom-Psychologin.
Kinder wollen erleben. Nicht nebenbei, nicht passiv, sondern richtig, mit allen Sinnen. Sie wollen lachen, gestalten, Neues ausprobieren und eintauchen. Kurz gesagt: Sie wollen Spiel & Spaß. Wenn sie also ans Gerät wollen, geht es oft einfach nur um einen schnellen Zugang zu Freude, Spannung und Flow.
Und genau hier geraten Eltern unter Druck: Wir wollen unser Kind nicht dauernd „bespaßen“, aber wir wollen auch nicht, dass Langeweile automatisch in Bildschirmzeit endet. Dieser Artikel zeigt, welches Bedürfnis hinter dem Drang nach Unterhaltung steckt und wie Familien dieses erfüllen können, ohne dass das Handy die Hauptrolle übernimmt.
Der typische Startpunkt vieler Diskussionen
Bild generiert mit Hilfe von KI (Gemini, Google)
„Mir ist laaangweeiliiig... kann ich ans Handy? Nur fünf Minuten!“ Fünf Minuten, die in der Realität zuverlässig zu 25 werden – mindestens. Man hört die Ungeduld. Aber das, was darunter liegt, ist etwas viel Tieferes: ein Bedürfnis nach Spiel und Lebendigkeit. Eigentlich versucht das Kind zu sagen:
„Ich brauche gerade etwas, das mich erfüllt.“
„Ich möchte etwas Spaßiges erleben.“
„Ich will jetzt sofort dieses prickelnde Gefühl, das mich wach und lebendig macht.“
Kinder wollen nicht „beschäftigt“ werden – sie wollen etwas, das sie im positiven Sinne fesselt. Und digitale Angebote sind Meister darin, genau dieses Gefühl schnell und mühelos zu liefern.
Warum Spiel und Spaß so machtvoll sind
Zwischen 9 und 13 Jahren erweitert sich die Erlebniswelt enorm:
Kinder wollen Geschichten erleben (Bücher, Serien, Games).
Sie wollen kreativ werden, Dinge erschaffen, sich ausprobieren.
Sie wollen Leistung spüren – in Rätseln, Challenges, Spielen.
Sie wollen Gemeinschaft – lachen, albern sein, gemeinsam etwas Cooles machen.
Spiel ist die Art, wie sie wachsen. Deshalb ist Spiel weder Luxus noch Freizeitbeschäftigung, sondern eine zentrale Entwicklungsaufgabe.
Früher waren es Rollerblades, Tamagotchis oder Harry-Potter-Rollenspiele. Heute sind es Minecraft oder TikTok-Trends. Die Form hat sich verändert. Das Bedürfnis dahinter nicht.
Wie Spielräume entstehen, ohne dass ein Gerät ins Spiel kommt
1. Erst das Bedürfnis erkennen und benennen
Bevor wir diskutieren, lohnt sich ein kurzer Moment Verbindung:
„Du willst gerade etwas Spannendes machen, oder?“
„Dir ist langweilig und du möchtest Action – stimmt’s?“
Dieser Satz allein entschärft den halben Konflikt. Kinder müssen weniger kämpfen, wenn sie fühlen: Mein Anliegen kommt an.
2. Über Gefühle sprechen statt über Regeln streiten
Wenn Kinder nach „Spaß über Bildschirm“ greifen, steckt oft Folgendes dahinter:
Überforderung
Langeweile
Stressabbau
Wunsch nach Flow
Wunsch nach Erfolgserlebnis
Statt Regeln zu rezitieren („du hattest doch schon deine halbe Stunde Bildschirmzeit für heute“), fragen:
„Was würdest du gern erleben?“
„Was fehlt dir gerade?“
„Was macht dir im Moment am meisten Spaß?“
Dadurch entsteht ein echtes Gespräch, nicht ein Machtkampf.
Bild generiert mit Hilfe von KI (Gemini, Google)
3. Spielräume schaffen ohne zum Entertainer zu werden
Viele Eltern befürchten, sie müssten nun selbst Animateure spielen, kaum dass das Kind Langeweile bekundet. Nein. Ältere Kinder brauchen eher einen Startimpuls als eine fertige Idee.
Beispiele für Kinder ab 9, 10, 11:
Brettspiele für größere Kinder:
Dixit, Azul, Carcassone, Catan Junior, Karak, Just One
(viele davon funktionieren auch kurz und spontan).Escape-Games oder Rätselboxen
15–30 Minuten Spannung – perfekt für „Ich will was Cooles machen“.Kreative Medienarbeit:
Mini-Filmszenen drehen, Stop-Motion-Apps nutzen, ein Hörspiel aufnehmen.Kreative Projekte:
Leinwand bemalen, Skizzenbuch, Manga-Zeichnen.Musikalische Experimente:
Neues Instrument ausprobieren, Beatbox-Tutorials, Rhythmus-Challenges.DIY-Basteleien für größere Kids:
Armbänder knüpfen, einfache Holzprojekte, kleine Upcycling-Ideen.Mini-Outdoor-Challenges:
„Finde fünf Dinge, die eine besondere Form haben.“
„Wer sieht zuerst etwas in Wolkenform X?“
Kurz, witzig, bindend.Bei miesem Wetter: Ein spannendes Buch (aus der Bücherhalle oder gebraucht, z.B. von rebuy), Rätselblöcke, Hörspiele
Die Message bleibt: Ich helfe dir zu entscheiden, gestalten tust du selbst.
4. Die Handyfrage entdramatisieren, aber nicht zum Standard machen
Wir Eltern können klar sagen: „Es gibt Handyzeiten – aber nicht als Lösung für jedes Langeweile-Gefühl.“
Denn, wenn das Handy ständig „Spaß-Spender“ ist, wird alles andere blass und uninteressant.
Besser:
Medienzeiten planen, klare Slots verhandeln
gemeinsam vorher festlegen: Was schauen? Was spielen? Wie lange?
Das nimmt enorm viel Stress raus, auf beiden Seiten.
5. Perspektive geben
Kinder brauchen Orientierung:
„Diese Woche testen wir drei neue Sachen, du suchst sie aus.“
„Am Wochenende machen wir ein neues Brettspiel auf, such eins aus.“
„Für Langeweile finden wir gemeinsam Ideen, aber das Handy bleibt die Ausnahme.“
So wird das Verständnis von Spiel wieder breiter (und nicht auf einen einzigen Bildschirm fokussiert).
Fazit
Kinder wollen nicht ans Handy. Sie wollen Spiel & Spaß, lachen, ausprobieren, sich spüren. Wenn wir verstehen, was hinter dem Wunsch steckt, können wir bessere Entscheidungen treffen – ohne jedes Mal das Smartphone zu zücken. Spiel ist kein Lückenfüller zwischen Hausaufgaben und Abendessen, sondern pure Lebendigkeit und unverzichtbar für eine gesunde Kindesentwicklung. Und es gibt unendlich viele Wege, dies zu gewährleisten.