Der einfache Zugang zum Kinderzimmer – wie Social Media die Loverboy-Masche neu befeuert

Einleitung: Der digitale Köder

„Mama, ich kenn ihn von Insta – der ist echt nett. Wir schreiben schon voll lange.“

Was viele Eltern als harmlose Schwärmerei abtun, ist manchmal der Anfang eines Albtraums. Denn in der heutigen digitalen Welt braucht es keinen dunklen Park, keine zwielichtige Bar, kein Hinterzimmer mehr. Wer junge Mädchen emotional manipulieren will, braucht nur eines: Zugang zu ihrem Smartphone.

Und dieser Zugang ist einfach, oft sogar erschreckend einfach.

Bild generiert mit Hilfe von KI (ChatGPT/DALL·E, OpenAI).

Zählmarke

Instagram, TikTok, WhatsApp, Snapchat – sie gehören zum Alltag fast aller Jugendlichen. Sie sind Unterhaltungsplattformen, Inspirationsquelle, Bühne – und eben auch Kontaktbörse. Wer heute 13 ist, hat oft Tausende Kontakte. Und viele dieser Kontakte kennt man nicht persönlich.

Ein Profilbild, ein bisschen Charme, ein paar passende Emojis – mehr braucht es nicht, um Vertrauen aufzubauen. Und die Algorithmen helfen mit. Täter wissen das. Sie sind keine Klischee-Gestalten aus Krimis. Sie sind oft jung, smart, höflich. Sie schreiben:

„Du bist anders als die anderen.“

„Du kannst mit mir über alles reden.“

„Deine Eltern checken das nicht.“

Was nach einer netten Nachricht klingt, ist oft Teil einer gezielten Strategie: emotionale Abhängigkeit über den Chat.

Die Masche: Schritt für Schritt

1. Kontaktaufnahme:

Meist über Instagram, TikTok oder WhatsApp. Täter liken alte Beiträge, kommentieren harmlose Inhalte oder schicken Direktnachrichten. Sie wirken charmant, interessieren sich für Hobbys, Musikgeschmack oder Probleme zu Hause.

2. Vertrauensaufbau:

Der Täter wird zur wichtigsten Bezugsperson. Er hört zu, gibt das Gefühl, verstanden zu werden – oft über Wochen oder Monate. Emotionale Nähe wird suggeriert, ohne dass es je zu einem realen Treffen kommt.

3. Isolierung:

Die Familie wird schlechtgeredet, Freund*innen verlieren an Bedeutung. Aussagen wie „Du brauchst nur mich“ oder „Die anderen gönnen dir dein Glück nicht“ sind typisch.

4. Erste Forderungen:

Intime Bilder, Videos, erste Treffen. Der Täter bittet, überredet – und setzt emotional unter Druck. Er droht nie direkt, aber die Botschaft ist klar: Wenn du mich liebst, tust du das für mich.

5. Kontrolle und Erpressung:

Sobald belastendes Material existiert, beginnt die Manipulation. Täter setzen auf Schuldgefühle, Erpressung oder Versprechungen. Manche Mädchen werden gezwungen, sich zu prostituieren – meist in informellen Kontexten, über Freunde des Täters oder Onlineplattformen.

Warum Kinder und Jugendliche so anfällig sind

In der Pubertät suchen junge Menschen nach Zugehörigkeit, nach Liebe, nach Bedeutung. Sie sind auf Identitätssuche – innerlich wie äußerlich. Gleichzeitig haben sie oft noch kein ausgeprägtes Risikobewusstsein.

Täter nutzen das aus. Sie stellen sich auf die Sprache, die Plattform und die Gefühlswelt der Jugendlichen ein. Sie wissen: Wenn das Selbstwertgefühl schwankt, kann schon eine freundliche Nachricht wirken wie ein Rettungsanker.

Hinzu kommt: Viele Jugendliche wissen technisch mehr über Social Media als ihre Eltern – aber weniger über dessen psychologische Mechanismen. Sie unterschätzen, wie gezielt Täter vorgehen. Und sie überschätzen ihre Fähigkeit, den Kontakt kontrollieren zu können.

Was Social Media so gefährlich macht

1. Nähe trotz Distanz:

Jugendliche haben das Gefühl, die andere Person gut zu kennen – obwohl sie sich nie gesehen haben.

2. Direktkontakt rund um die Uhr:

Täter schreiben auch nachts, an Feiertagen, wenn Eltern nicht hinschauen. Über Storys, Reels und Sprachnachrichten entsteht eine fast intime Beziehung.

3. Algorithmen als Verstärker:

TikTok & Co zeigen Inhalte, die den Interessen des Nutzers ähneln. Wer sich für bestimmte Typen oder „Bad Boys“ interessiert, wird entsprechend weitergeführt – auch zu toxischen Inhalten.

4. Vermeintliche Kontrolle:

Jugendliche glauben oft, alles im Griff zu haben – weil sie entscheiden, wann sie antworten oder posten. In Wahrheit bestimmen die Plattformen, was sie sehen, und Täter, was sie fühlen sollen.

5. Heimlichkeit ist einfach:

Parallelkonten, versteckte Chats, verschlüsselte Apps – viele Eltern wissen gar nicht, was wirklich auf den Handys passiert.

Was tun, wenn es passiert ist?

Eltern sollten vorbereitet sein – und wissen, was zu tun ist, wenn ihr Kind betroffen ist:

  • Ruhe bewahren: Kinder brauchen jetzt keinen Vorwurf, sondern Schutz.

  • Beweise sichern: Screenshots, Chatverläufe, Profilnamen dokumentieren.

  • Kontakt abbrechen: Täter blockieren, Plattform melden.

  • Professionelle Hilfe holen: Jugendhilfe, Polizei, Beratungsstellen wie jugendnotmail.de oder Wildwasser.

  • Psychische Stabilisierung: Viele Betroffene leiden unter Scham, Angst, Panikattacken. Therapie kann notwendig sein.

  • Betroffene nicht alleine lassen: Oft breitet sich der Vorfall schnell in sozialen Gruppen aus. Eltern sollten Schule und enge Bezugspersonen einbinden.

Was Eltern konkret tun können – bevor etwas passiert

Es gibt keinen perfekten Schutz – aber es gibt gute Prävention:

  • Offen über digitale Beziehungen sprechen – ohne Panikmache, aber ehrlich.

  • Medienkompetenz stärken: Nicht nur technische Nutzung, sondern emotionale Wirkung und Plattformlogiken erklären.

  • Interesse zeigen: Wer sich regelmäßig für das digitale Leben seines Kindes interessiert, wird eher einbezogen, wenn etwas nicht stimmt.

  • Frühzeitig über toxische Beziehungen reden: Nicht erst, wenn es um Sex geht – sondern schon bei Themen wie Abhängigkeit, Kontrolle, Schuld.

  • Vertrauensperson sein: Ein Kind muss wissen: Ich kann mit allem zu dir kommen, ohne Angst vor Strafe oder Drama.

Unterschiedliche Reaktionen in Schulen – was Workshops zeigen

In Workshops zur Loverboy-Methode – wie sie etwa TERRE DES FEMMES bundesweit anbietet – zeigt sich immer wieder ein auffälliges Muster: Mädchen und Jungen reagieren sehr unterschiedlich.

Viele Mädchen und TIN-Jugendliche (trans, inter, nicht-binär) reagieren oft mit Betroffenheit, Ekel oder sogar Schock. Sie spüren unmittelbar, wie schnell sie selbst betroffen sein könnten – oder denken an Freundinnen, denen Ähnliches passiert ist.

Jungen hingegen zeigen häufig eine distanziert-neutrale oder ablehnende Haltung. Manche machen Witze, andere äußern Sätze wie: „Aber es sind doch nicht alle Männer Täter.“ Oder: „Die war doch selber schuld, wenn sie ihm so vertraut hat.“

Diese Reaktionen wirken auf den ersten Blick hart – sind aber oft Ausdruck von Unsicherheit. Denn der Gedanke, dass auch „normale Jungs“ Teil eines gewaltvollen Systems sein könnten, ist schwer auszuhalten. Täter sind in der eigenen Altersgruppe plötzlich kein „anderer Typ“, sondern vielleicht jemand, den man kennt. Oder: jemand, dem man ähnelt.

Sophia Dykmann beschreibt das so: „Widerstand ist oft ein Einstieg in einen Prozess. Es geht nicht um Schuld, sondern um Reflexion. Und die braucht manchmal Zeit.“ Hier der Link zu Ihrer Veröffentlichung.

Deshalb ist es so wichtig, mit allen Jugendlichen – Mädchen, Jungen und nicht-binären Personen – über Beziehung, Macht und Verantwortung zu sprechen. Nicht moralisch, sondern menschlich. Nicht mit dem Zeigefinger, sondern mit offenen Fragen.

Fazit: Wissen ist Schutz – und Haltung ist Verantwortung

Die Loverboy-Masche ist kein Mythos. Sie ist real – und sie passt sich an. In einer Welt, in der Social Media zum festen Bestandteil des Alltags geworden ist, müssen wir Eltern lernen, nicht nur die Geräte, sondern auch die Dynamiken dahinter zu verstehen.

Wer seine Kinder wirklich schützen will, muss sich mit Fragen beschäftigen wie:

  • Warum werden Mädchen emotional so abhängig?

  • Was lernen Jungen über Macht, Kontrolle und Beziehung?

  • Wie funktioniert Vertrauen – und wie wird es online missbraucht?

Sophia Dykmann, Referentin bei TERRE DES FEMMES, sagt nach hunderten Workshops mit Jugendlichen: „Es geht nicht darum, alle Jungen zu verdächtigen. Aber es geht darum, Verantwortung zu benennen – und Empathie zu fördern.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

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