Warum Kinder bei Challenges mitmachen
Hi, ich bin Varvara, Diplom-Psychologin, Coach und Mutter.
Für Medienzeit schaue ich hinter das Verhalten: Welche Bedürfnisse treiben Kinder an – und wie können Eltern sie begleiten, ohne nur „Nein“ zu rufen oder alles mitzumachen?
Was hinter dem Drang steckt, dabei zu sein - Ein Gastbeitrag von Varvara Herbst, Diplom-Psychologin.
Kinder machen bei Challenges mit, weil sie „mit der Herde schwimmen“ wollen? Weil sie Aufmerksamkeit brauchen? Weil „die Jugend heutzutage halt so ist“?
Schauen wir genauer hin, wird schnell klar: Hinter vielen Challenges stecken ganz normale menschliche Bedürfnisse – nur eben im Turboformat der digitalen Welt: Gesehen werden. Anerkennung. Sich lebendig fühlen. Sich messen. Dazugehören. Und ja: Genau diese Mischung macht Challenges so reizvoll – und manchmal gefährlich.
Warum gefährlich? Dieselben Bedürfnisse, die Challenges so anziehend machen, können auch kippen. Nicht jede Challenge ist harmlos. Manche erzeugen starken Leistungsdruck, verschieben Grenzen oder spielen mit Scham und Risiko, oft ohne dass Kinder das früh genug merken.
Wenn aus „nur ein Video“ plötzlich eine Challenge wird
„Mama, ich mach nur kurz ein Video, das machen gerade alle!“
Du stehst in der Küche, halbes Ohr beim Essenmachen, halbes Ohr beim Kind. Eine halbe Stunde später hat dein Kind denselben Tanz fünfzehnmal aufgenommen, drei Mal das Outfit gewechselt, zwei Mal die Haare neu gemacht und zehn Mal gesagt: „Das ist noch nicht gut, ich mach’s nochmal!“
Am Ende steht ein 20-Sekunden-Clip. Dahinter: eine Stunde Arbeit. Und jede Menge Gefühle. Genau das macht Challenges so wirkungsvoll und gleichzeitig anfällig dafür, dass aus Spaß Stress wird oder der Wunsch nach Anerkennung immer weiter wächst.
Denn dein Kind hat in dieser Stunde versucht:
gesehen zu werden
dazuzugehören
zu zeigen: „Ich kann das auch!“
sich selbst in Aktion zu erleben
Von außen wirkt es für uns Erwachsene wie eine alberne Challenge. Aber innen passiert deutlich mehr.
Bild generiert mit Hilfe von KI (Gemini, Google)
Anerkennung & „gesehen werden“ – das unsichtbare „Like“
Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer Welt auf, in der Sichtbarkeit eine Währung ist. Wer bei Challenges mitmacht, hofft auf positive Reaktionen wie
„Wow, du kannst das ja richtig gut!“
„Cool, du machst auch mit!“
„Gefällt mir“ in Form von Likes, Herzchen, Kommentaren.
Genau dieses soziale Feedback – also Reaktionen von anderen – ist stark mit Selbstwert und Stimmung verknüpft, gerade in der Pubertät.
Challenge heißt also nicht nur: „Ich mache etwas“.
Challenge heißt auch: „Bitte schau hin. Bitte sieh mich.“
Problematisch wird es, wenn dieses “Gesehenwerden” ausbleibt oder kippt. Aus Likes können abwertende Kommentare werden, aus Anerkennung öffentlicher Druck. Etwas, das Kinder emotional oft noch nicht gut abfedern können.
Sich spüren & selbstwirksam fühlen
Viele Challenges haben einen körperlichen, kreativen oder sportlichen Anteil: Tanzen, Tricks mit dem Ball, Sportübungen, Kunststücke, Zeichnungen, Musik, oder Speed-Rätsel.
Das ist nicht zufällig so. Kinder wollen erleben und spüren, dass ihr Körper und ihr Können etwas bewirken:
„Ich habe das geübt – und es klappt!“
„Ich konnte mir das merken.“
„Ich traue mich vor die Kamera.“
Hier sind wir mitten im Thema Selbstwirksamkeit: Ich tue etwas – und sehe direkt ein Ergebnis.
Das fühlt sich gut an. Sehr gut sogar. (Auch für uns Erwachsene.)
Problematisch wird es nur, wenn die Plattformmechanismen (Algorithmen, Endlosfeeds) dieses Gefühl kapern – und aus „Ich mache etwas“ wieder „Ich konsumiere nur noch“ machen.
Wettbewerb, Vergleich & der kleine Kick
Challenges heißen nicht zufällig „Challenges“. Denn es geht bewusst um Herausforderung, Wettkampf und Vergleich:
Wer kann den Move am saubersten?
Wer schafft die Aufgabe am schnellsten?
Wessen Video geht „am besten ab“?
Jugendliche sind in dieser Phase besonders sensibel für Vergleich und soziale Rückmeldungen. In der Forschung nennt sich das social comparison – der Blick nach rechts und links, um den eigenen Platz in der Gruppe zu finden.
Dazu kommt noch:
Dopaminkick: Gelingt etwas, schießt das Belohnungssystem an.
Nervenkitzel: Manche Challenges spielen bewusst mit Risiko oder Grenzen.
Das alles führt dazu, dass sich Kinder sehr lebendig fühlen – zumindest für diesen Moment. Gleichzeitig kann der ständige Vergleich Druck erzeugen. Nicht gut genug, nicht mutig genug, nicht sichtbar genug. Manche Kinder hören dann mehr auf den Trend als auf ihr eigenes Gefühl.
Bild generiert mit Hilfe von KI (Gemini, Google)
Dazugehören, Identität, „Teil von etwas Größerem sein“
Viele Challenges laufen nach dem Motto:
„Mach mit!“
„Zeig deine Version!“
„Wir machen das alle!“
Das ist Gruppendynamik pur. Hinter dem Smartphone tobt eine riesige Bühne aus Zugehörigkeit, Rollen und Identität. Kinder fragen sich: Wer bin ich in all dem? Welche Rolle steht mir? Will ich eher lustig, mutig, kreativ, „cool“ sein? Natürlich gibt es auch positive Aspekte wie Spenden-Challenges oder Awareness-Aktionen für Klima, Gerechtigkeit und mentale Gesundheit.
Aber gleichzeitig auch immer mehr Trends, die gefährliche Inhalte normalisieren oder für problematische Vorbilder Tür und Tor öffnen.
Wichtig ist für uns Eltern zu verstehen: Auch hier stehen oft Bedürfnisse dahinter – nach Sinn, Zugehörigkeit, Vorbildern, nicht „nur“ Aufmerksamkeit.
Wichtig zu wissen: Riskante Challenges
Neben kreativen oder sozialen Aktionen gibt es auch Challenges, die riskantes Verhalten normalisieren, Scham oder Bloßstellung erzeugen oder Grenzen überschreiten. Gerade weil sie im Gewand von Spaß und Gruppendynamik auftreten, werden Risiken oft unterschätzt.
Woran Eltern riskante Challenges erkennen können
Nicht jede Challenge ist problematisch. Viele sind kreativ, sportlich oder harmlos. Dennoch gibt es einige Warnzeichen, bei denen Eltern genauer hinschauen sollten:
Achtung, wenn eine Challenge …
Kinder zu Mutproben oder riskantem Verhalten auffordert
Druck aufbaut wie „Alle machen das“ oder „Trau dich“
mit Scham, Bloßstellung oder Erniedrigung arbeitet
dazu animiert, private oder intime Inhalte zu teilen
immer weiter gesteigert werden soll, höher, schneller, extremer
suggeriert, dass Aussteigen peinlich oder uncool ist
Ein gutes Bauchgefühl zählt
Wenn dein Kind nervös wirkt, ungewöhnlich viel Zeit mit einer Challenge verbringt oder stark auf Reaktionen wartet, lohnt sich ein Gespräch. Nicht mit Vorwürfen, sondern mit echtem Interesse.
Eine einfache Frage kann viel öffnen
„Fühlt sich das für dich noch gut an oder eher nach Druck?“
Diese Frage hilft Kindern, wieder auf ihr eigenes Empfinden zu hören statt nur auf den Trend.
Wie Eltern mit Challenges umgehen können – ohne nur zu verbieten
Kinder brauchen bei Challenges keine schnellen Verbote, sondern Erwachsene, die hinschauen, mitdenken und Sicherheit geben.
1. Erst verstehen, dann bewerten
Bevor du sagst „Das ist doch Quatsch“ oder „Das machst du auf keinen Fall“, atme einmal durch und frag dein Kind ruhig:
„Was findest du an dieser Challenge spannend?“
„Was gefällt dir daran – die Idee, die Musik, dass es alle machen…?“
„Wie hast du von der Challenge erfahren?“
Damit signalisierst du: „Ich interessiere mich für deine Welt.“ Und nicht: „Ich warte nur auf eine Lücke, um Nein zu sagen.“
2. Das Bedürfnis dahinter für dein Kind ausdrücken
Du kannst vorsichtig in Worte fassen, was du wahrnimmst:
„Klingt, als würdest du dich gern mal so richtig zeigen.“
„Du willst beweisen, was du kannst, oder?“
„Du magst daran, dass ihr alle das Gleiche macht.“
Für viele Kinder ist das eine Erleichterung: Jemand sieht das „Warum“ hinter ihrem Wunsch – nicht nur die Oberfläche.
3. Sicherheitscheck einbauen – sachlich, nicht hysterisch
Gemeinsam prüfen:
„Ist das körperlich sicher?“ (Stunts, Mutproben, riskante Orte)
„Wer könnte das Video alles sehen?“
„Welche Spuren bleiben davon später im Netz?“
„Was wäre das Peinlichste, was passieren könnte – und könntest du damit leben?“
Du kannst auch sagen: „Mir ist wichtig, dass du gesund bleibst – körperlich und innerlich. Lass uns zusammen draufschauen, bevor wir entscheiden.“
4. Eigene Regeln für „unsere Challenges“ vereinbaren
Statt nur auf fremde Trends zu reagieren, könnt ihr auch eigene Rahmen setzen:
„Bei uns gibt es nur Challenges, die niemanden verletzen – weder dich noch andere.“
„Wir filmen nicht in Unterwäsche, nicht im Schlafzimmer, nicht mit deutlich erkennbarem Straßenschild.“
„Wir posten nichts, was du in zwei Jahren bereuen könntest.“
Ihr könnt sogar Familien-Challenges erfinden:
„7 Tage lang jeden Tag jemandem etwas Nettes sagen.“
„Eine Woche lang jeden Tag eine kleine Mutprobe, die dir gut tut (z. B. jemand um Hilfe bitten, etwas Neues ausprobieren).“
Das dreht das Prinzip „Challenge“ um – weg von Klicks, hin zu innerem Wachstum.
5. Ausstiegskompetenz stärken
Kinder brauchen nicht nur das „Okay, du darfst“ – sie brauchen auch:
Worte, um Nein zu sagen („Ich hab keine Lust, sowas zu posten.“)
das Wissen, dass sie sich immer an dich wenden können, wenn eine Challenge kippt
das Gefühl: „Meine Eltern stehen hinter mir, auch wenn ich aussteige.“
Du kannst sagen: „Wenn dir bei einer Challenge etwas komisch vorkommt, darfst du jederzeit aussteigen – und zwar ohne peinliche Nachfragen von uns.“
Das ist gelebte Autonomie – und schützt gleichzeitig.
Fazit
Kinder machen bei Challenges nicht mit, weil sie „verrückt nach Aufmerksamkeit“ sind.
Sie machen mit, weil sie:
gesehen werden möchten
sich erleben und etwas können wollen
ihren Platz in der Gruppe suchen
sich vergleichen, ausprobieren, dazugehören möchten
Diese Bedürfnisse sind nicht neu. Neu ist nur, wie schnell und laut (und oft leider risikoreich) die digitale Welt sie verstärkt. Wenn wir hinschauen, nachfragen und gemeinsam Rahmen setzen, können Challenges ein Einstieg in gute Gespräche werden – statt nur ein Anlass für Streit.
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“Alle haben eins” - Wenn Kinder dazugehören wollen: https://www.medienzeit-elternblog.de/blog/varvara-herbst-alle-kinder-haben-eins
„Mir ist langweilig!“ – Was hinter dem Wunsch nach Unterhaltung steckt: https://www.medienzeit-elternblog.de/blog/mir-ist-langweilig-wunsch-nach-unterhaltung
“Ich will das können!” – Warum Selbstwirksamkeit für Kinder so wichtig ist: https://www.medienzeit-elternblog.de/blog/ich-will-das-koennen-selbstwirksamkeit