“Ich will das können!” – Warum Selbstwirksamkeit für Kinder so wichtig ist
Hi, ich bin Varvara, Diplom-Psychologin, Coach und Mutter.
Für Medienzeit beleuchte ich psychologische Zusammenhänge, die Eltern helfen, digital-sichere und innerlich starke Kinder zu begleiten.
Ein Gastbeitrag von Varvara Herbst, Diplom-Psychologin.
Wir Menschen wollen etwas schaffen, Kinder ganz besonders. Sie wollen ausprobieren, sich weiterentwickeln, Fähigkeiten aufbauen und erleben ”Ich kann etwas selbst bewirken”. Nicht, weil wir es von ihnen erwarten, sondern weil es ein Grundbedürfnis ist: Selbstwirksamkeit.
Doch genau dieses Gefühl geht heute immer häufiger verloren. Und das nicht etwa, weil Kinder weniger motiviert wären. Es liegt viel mehr an den Mechanismen, die die großen digitalen Plattformen nutzen. Sie ziehen Kinder in den Konsummodus, statt ins eigene Gestalten.
In diesem Text möchte ich zeigen, warum Selbstwirksamkeit so wichtig ist, warum viele digitale Dienste Kinder davon wegführen und wie Eltern den Blick ihrer Kinder auf das Können stärken können
Wenn der Wunsch nach “Können” im Algorithmus versickert
„Guck mal Papa, ich will lernen, wie man diesen Trick macht… warte… ich schau kurz ein Video dazu!“
Zwei Minuten später: Kein Trick.
Und auch keine Anleitung zum Trick.
Stattdessen ein endloses Feuerwerk aus Shorts, Challenges, Szenenwechseln und „Du wirst nicht glauben, was als Nächstes passiert!“. Und plötzlich sitzt da ein Kind, das eigentlich etwas machen wollte, aber jetzt nur noch konsumiert, scrollt, schaut. Weil das System (das damit Geld verdient), genau darauf ausgelegt ist.
Wichtig zu wissen: Das Kind kann nicht mal was dafür! Es ist weder faul noch unmotiviert. Es hat nur keine Mechanismen, sich zu wehren, und verliert sich im Autoplay-Feed, ohne es zu merken.
Was dadurch auch verloren geht, ist der Moment, auf den das Kind ursprünglich hinauswollte: Nämlich zu spüren „Ich habe etwas geschafft, ich habe mich selbst vorangebracht – ich kann etwas!“
Was Selbstwirksamkeit bedeutet und warum sie so wichtig ist
Bild generiert mit Hilfe von KI (Gemini, Google)
Selbstwirksamkeit entsteht, wenn ein Kind spürt
Ich probiere etwas
Ich übe
Ich schaffe es
Sie stärkt
Mut
Lernfreude
Stressbewältigung
Selbstvertrauen
Durchhaltevermögen
Problemlösefähigkeit
und die psychische Gesundheit
Zwischen 9 und 13 gilt das besonders: In diesem Alter wollen Kinder nicht nur dazugehören (auch im Artikel “Alle haben eins!” beschrieben) oder Spaß haben (wie beim Artikel “Langweilig!”), sondern erste bedeutsame Spuren in der Welt hinterlassen:
„Ich will etwas können. Ich will etwas zeigen. Ich will die Welt ein Stück verändern.“
Wie Algorithmen gezielt Selbstwirksamkeit untergraben
Plattformen wie YouTube, TikTok, Instagram oder Meta nutzen Mechanismen, die als addicted-by-design bezeichnet werden, also bewusst entworfene Designs, um Nutzer*innen möglichst lange zu halten.
Studien zeigen:
Endloses Scrollen steigert Nutzungszeit und senkt die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aktiv entscheidet, aufzuhören.
Autoplay sorgt dafür, dass das nächste Video startet, bevor das Gehirn „Stop“ sagen kann.
Empfehlungs-Algorithmen belohnen nicht das, was wir suchen, sondern das, was uns bindet.
Überraschungsbelohnungen („variable rewards“) funktionieren ähnlich wie Glücksspiel.
Für Erwachsene ist das schon schwer zu durchschauen. Für Kinder ist es quasi unmöglich.
Die Folge:
Kinder kommen mit einer aktiven Intention – und verlieren sie im System.
Sie wollten etwas lernen. Aber plötzlich sind sie passive Zuschauer.
Sie wollten etwas schaffen. Aber plötzlich sind sie im Pausenmodus ihres eigenen Lebens.
Das ist kein persönliches Versagen, sondern eine Designentscheidung. Die fatale Folge: Wenn Kinder zu viel Zeit im Konsummodus verbringen, entsteht unbewusst das Gefühl: „Ich mache eigentlich nichts … ich werde gemacht. Und können kann ich auch nichts.“
Damit verschwindet das innere Erleben von Selbstwirksamkeit
Wie Eltern Selbstwirksamkeit stärken können – auch in einer Welt voller Ablenkung
1. Das Bedürfnis benennen statt das Verhalten zu kritisieren
Bevor wir Verbote aussprechen oder schimpfen, kurz anhalten und in eigenen Worten formulieren:
„Du willst etwas können, stimmt’s?“
„Dir geht es darum, diesen Trick zu schaffen, nicht um fünf Stunden Bildschirmzeit, oder?“
„Du möchtest etwas Eigenes aufbauen.“
Dieser Blick auf das Wesentliche verbindet. Dann fühlen sich Kinder ernst genommen und nicht „erwischt“.
2. Medien als Werkzeug nutzen, nicht als Sog
Geräte sind nicht per se schlecht, aber sie brauchen einen klaren Rahmen. Statt pauschal anzusagen „Kein Handy mehr!“, lieber fragen:
„Wofür genau willst du es nutzen?“
Für Kinder ab 9–12 kann das bedeuten:
ein Tutorial bewusst auswählen
das Video stoppen (und Autoplay vorher ausschalten)
gemeinsam entscheiden: „Was genau willst du lernen?“
Medienzeit als „Gestaltungs- oder Projektzeit“ deklarieren, nicht als „Leerlauf“
Der psychologische Effekt ist enorm: Kinder bleiben aktive Handelnde statt zu passiven Konsumenten zu mutieren.
Bild generiert mit Hilfe von KI (Gemini, Google)
3. Kleine Projekte ermöglichen, die Erfolgserlebnisse erzeugen
Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, und so entsteht Selbstwirksamkeit auch nicht in einem Satz, sondern durch wiederholte Erfahrung.
Konkrete Beispiele:
Kreative Projekte: ein Hörspiel aufnehmen, ein kurzes Video drehen, etwas malen, etwas bauen
Mini-Challenges: „Schaffst du 10 Minuten konzentriert an etwas dran zu bleiben?“
Technikprojekte: kleine Roboterkits, Stop-Motion-Filme, Mechanik-Baukästen
Musikprojekte: Beats erstellen, ein neues Lied lernen, Rhythmusübungen
Alltags-Selbstwirksamkeit: eigenes Gericht kochen, Schulweg allein meistern, ein Regal aufbauen
Wichtig ist hier: Es geht nicht um Perfektion. Das Ergebnis muss nicht top sein. Es geht um den Weg dahin und das Gefühl „Ich habe das gemacht.“
4. Reflexionsfragen statt Kontrolle
Statt einer Predigt brauchen Kinder den liebevollen Spiegel:
„Wie ging’s dir vorher?“
„Was wolltest du eigentlich machen?“
„Hat dir das gerade mehr gegeben – oder eher Zeit weggenommen?“
„Was war der Moment, wo du die Kontrolle verloren hast?“
Diese Fragen schärfen ihr Bewusstsein und stärken ihr Vertrauen in die eigene Steuerungsfähigkeit.
5. Klare Grenzen geben Halt (aber mit Perspektive)
Kinder dürfen hören:
„Ich will, dass du stark wirst – nicht abhängig.“
„Du bekommst Handyzeit, aber nicht für Endlos-Scrollen.“
„Wir schützen deine Fähigkeit, Dinge selbst zu schaffen.“
Grenzen sind kein Misstrauen. Sie sind ein Schutz des inneren Wachstumsmotors.
Fazit
Kinder wollen nicht einfach stundenlang „daddeln“. Sie wollen etwas können. Sie wollen erleben, dass sie wirken, verändern, wachsen.
Selbstwirksamkeit ist kein akademischer Begriff – sie ist pure Lebensenergie.
Wenn wir Kindern helfen, ihre Fähigkeiten auszuleben – statt im Algorithmus zu versickern – dann geben wir ihnen etwas, das kein Gerät ersetzen kann:
Das Gefühl:
Ich kann etwas.
Ich bewirke etwas.
Ich bin wirksam.