„Alle haben eins!“ - Wenn Kinder dazugehören wollen

Warum der Smartphone-Wunsch selten nur um Technik geht, sondern um Zugehörigkeit.
Ein Gastbeitrag von Varvara Herbst, Diplom-Psychologin.


Varvara Herbst Portrait

“Hi, ich bin Varvara, Diplom-Psychologin, Coach und Mutter. Für Medienzeit beleuchte ich die psychologischen

Zusammenhänge und gebe Eltern stärkende Tipps, damit sie zusammen mit ihrem Kind gut durch die Herausforderungen navigieren.”

Wenn Kinder nach einem Smartphone fragen, geht es selten um das Gerät selbst, sondern um das Gefühl, verbunden zu sein: Mit Freunden, mit der Klasse, mit dem, was „alle“ gerade tun. Denn Kinder wollen einfach dazugehören. Sie wollen Teil der Gruppe sein, nicht außen vor. Wir Eltern stehen dabei oft im Spannungsfeld zwischen sozialem Druck, dem Wunsch nach Schutz und einer digitalen Welt, die sich schneller entwickelt, als wir mitkommen.

Dieser Artikel zeigt, was hinter dem Wunsch steckt, und wie wir Eltern Verbindung ermöglichen können, ohne sofort ein Handy zu kaufen.

Zählmarke

Die Szene, die fast jede Familie kennt

„Mamaa… alle in meiner Klasse haben schon ein Handy! Nur ich nicht!“
Es klingt nach Trotz, manchmal nach Erpressung, oft aber einfach nach Verzweiflung. Denn in diesem Satz steckt mehr als nur ein technischer Wunsch – er ist ein Hilferuf in Sachen Zugehörigkeit.

Was Kinder in dem Moment eigentlich versuchen zum Ausdruck zu bringen:

  • „Ich will nicht die Einzige sein, die draußen bleibt.“

  • „Ich will dazugehören und gesehen werden.“

Und das ist völlig verständlich. Verbindung bzw. Zugehörigkeit ist ein menschliches Grundbedürfnis – für Kinder genauso wie für uns Erwachsene. 
Nur dass Kinder sich ihren Platz in der Gruppe noch erkämpfen müssen, während sie gleichzeitig gegen potentielle Suchtgefahren ankämpfen.


Warum Zugehörigkeit so stark wirkt

Varvara Herbst im Coaching

Foto: Varvara Herbst

Zwischen 9 und 13 Jahren verschiebt sich der Lebensmittelpunkt vieler Kinder: Weg von Familie, hin zur Peergroup. Freunde werden zum wichtigsten Resonanzraum. Was „die anderen“ denken, zählt plötzlich mehr als jede elterliche Ansage.

Früher waren es Armbänder, Sammelkarten oder das Tamagotchi. Heute ist es das Smartphone, das Tor zur gemeinsamen Welt. Chats, Emojis, Gruppenspiele: Wer kein Gerät hat, steht buchstäblich draußen vor der Tür.

Für uns Eltern ist das schwer auszuhalten. Einerseits wollen wir unser Kind vor einer Online-Welt schützen, die aktuell eine Schreckensmeldung nach der nächsten liefert. Andererseits spüren wir, wie sehr es sich nach Anschluss sehnt und Angst hat, abgehängt zu werden.

Beides ist richtig. Und beides darf nebeneinander stehen.

Wie Eltern Zugehörigkeit ermöglichen können, auch ohne Smartphone

1. Das Bedürfnis benennen

Statt sofort zu argumentieren („Du bist noch zu jung!“ oder „In deinem Alter haben wir uns auch anders beschäftigt!“), lieber kurz anhalten und spiegeln

„Du willst dazugehören, stimmt’s?“

Diese einfache Anerkennung öffnet den Raum. Kinder entspannen, sobald sie merken: Ich werde verstanden.

2. Alternative Brücken bauen

Für jedes Bedürfnis gibt es unterschiedliche Strategien, wie es erfüllt werden kann. Das heißt, Zugehörigkeit lässt sich auch anders erleben.
Ein paar Ideen:

  • Gemeinsame Aktivitäten mit Freund*innen ohne Handy: Spielen, Basteln, draußen sein.

  • Verabredungen bewusst fördern („Magst du morgen wen einladen?“).

  • Ein Familienhandy als Übergang nutzen – das Kind darf mal schreiben, Fotos machen, mit den Verwandten Video-Calls ausprobieren.

  • Offline-Rituale stärken: Briefe, kleine Challenges, kreative Projekte mit Freund*innen.

3. Über Gefühle sprechen statt über Regeln streiten

Wenn Kinder sich ausgeschlossen fühlen, nützt kein Vortrag über Altersfreigaben. Lieber fragen:

  • „Was passiert in dieser Chatgruppe?“

  • „Wie fühlst du dich, wenn du (noch) nicht dabei bist?“

  • „Was würde dir helfen, dich trotzdem verbunden zu fühlen?“

Diese Fragen zeigen Interesse und eröffnen ein Gespräch auf Augenhöhe.

4. Eine klare, liebevolle Grenze setzen

Grenzen sind keine Ablehnung, sondern Orientierung und Schutz. Ein möglicher Satz:

„Ich sehe, dass dir das wichtig ist. Und gleichzeitig will ich dich schützen. Davor, dass dich Dinge überfluten, die du noch nicht einordnen kannst.
Wir üben erst Zugehörigkeit ohne Handy. Danach entscheiden wir neu.“

So bleiben Eltern in Führung, ohne autoritär zu wirken.

5. Perspektive geben

Kinder brauchen Aussicht, kein Endlos-Nein. Deshalb den Prozess transparent machen:

  • „Wir schauen in drei Monaten nochmal gemeinsam.“

  • „Vorher üben wir, wie man mit Fotos oder Chats verantwortungsvoll umgeht.“

So wird aus „nie“ ein „noch nicht“ und das ist ein großer Unterschied.

Fazit

Kinder wollen nicht einfach ein Smartphone. Sie wollen dazugehören. Wenn wir das verstehen, können wir ihre Bedürfnisse ernst nehmen, ohne ihnen sofort jeden Wunsch zu erfüllen. Zugehörigkeit lässt sich üben: in echten Begegnungen, in Familienritualen, im Miteinander.
Und wer sich im echten Leben sicher verbunden fühlt, braucht die digitale Welt weniger als Beweis, dass er dazugehört.

Es ist kein Zeichen von Strenge, sondern von Stärke, wenn Eltern Zugehörigkeit begleiten, statt sie zu kaufen.

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